fbpx

Weit

aus Kurzgeschichte

Ich habe ein Lied gewoben aus Fäden, die bis zum Boden reichen. Es sind feine Fäden, pastellfarben und leicht. Wenn man sie in die Hand nimmt, verspürt man kein Gewicht. Legt man einen Faden zwischen zwei Finger und presst sie zusammen, spürt man ihn nicht, weiss nur, dass er da ist. Ich habe pastellfarbene Fäden genommen, weil man sie fast nicht sieht. Die knalligen Töne sind härter, tun weh in den Ohren und im Herz. Die fragilen blassen Töne spürt man weiter unten im Körper, im Bauch und in den Hüften. Sie vibrieren, aber wir spüren es nur, wenn wir ganz still sind. Diese Töne reisen weit, können sogar Ozeane überqueren. Man sagt, sie schlängeln sich auf der Wasseroberfläche dahin, über stille Seen und durch Stürme hindurch,um am andern Ufer wieder rauszuklettern. Ich hab die pastellfarbenen Fäden genommen, weil ich weiss, dass du weit weg bist, und ich will, dass sie dich finden. Die Honigmelone- und lachsfarbenen Fäden habe ich miteinander verwoben, weil sie die sanftesten Töne ergeben. Schwerelos und kühl liegen sie in meinen Händen, und Ihr gemeinsamer Klang singt von einer ausgefallenen Harmonie. Koralle und Himmelblau ranken sich um sie, rahmen sie ein. Diese beiden klingen wie die Lieder, die man Kindern zum einschlafen vorsummt um sie vor Albträumen zu bewahren. Der stahlblaue Faden zieht sich durch das Lied wie beissende Tränen, wie kaltes Tau auf weichem Gras. Ich habe sie alle wirr durcheinander gewoben, es gibt keinen Rythmus und keinen Refrain, nur die Fäden, die auf- und abtauchen, sich in- und umeinander wickeln. Ich habe sie gut geknotet, sie sollten halten, für immer. Und ich habe sie lang gelassen, so dass die Enden auf dem Boden entlang schleifen, wenn man das Lied über die Schulter legt und wegträgt. Ich würde es gerne aufhängen, irgendwo, wo der Wind damit spielen kann, damit die Töne leicht wegfliessen können. Niemand weiss, ob der Wind etwas damit zu tun hat, aber ich glaube, man hört das Lied besser, wenn es sich bewegen kann, die Töne werden dann leichter davongetragen. Vielleicht suche ich eine Stelle am Meer, wo ich es hinhängen kann. Aber das Salz in der Luft wird die Farben mit der Zeit ausbleichen. Dann wird nur noch ein einziger Ton 

zu hören sein von dem Lied, ein hohes Vibrieren im Brustkorb, das von überallher kommen könnte. Ich möchte aber, dass du mein Lied hörst, mit meinen Fäden, die ich absichtlich lang gelassen habe. Ich muss eine gute Stelle finden für das Lied. Ich mache mich jetzt auf den Weg, ich trage es, bis ich den Felsen finde, an den ich es hängen kann. Vielleicht wird es auch ein Ast sein, oder das Gerippe eines verrosteten Krans. Ich weiss noch nicht, wo ich es aufhänge, aber ich werde einen Ort finden. Es sollte ein Ort mit ein wenig Sonne sein, damit die Sonne die Töne aufwärmen kann. Sonne und Wind sollte es geben, und dann lasse ich das Lied sein und hoffe, du hörst es. Ich glaube dass du weit weg bist. Wenn du in der Nähe geblieben wärst, hätte ich ein anderes Lied gewoben, vielleicht sogar mit einigen schwarzen Fäden, obwohl die Schwarzen dumpf und hohl klingen und ihr Ton sich sofort auflöst. Wenn du in der Nähe geblieben wärst, hätte ich vielleicht gar kein Lied gewoben. Vielleicht hätte ich dich gesucht und gefunden und dir etwas mitgebracht, worüber du dich gefreut hättest. Aber weil du weit weg bist, habe ich die Fäden in den weichen Farben genommen und ein Lied gewoben. Die pastellfarbenen Töne können sich sogar zwischen den Wolken verstecken, so delikat sind sie. Du wirst das Lied lange hören können, so lange, bis der Regen Löcher hineingefressen hat und sich seine Klänge mit dem Rauschen der Bäume und dem Trippeln der Ratten vereinen. Dann werden nur noch einige Fäden im Wind baumeln, es wird kein Lied mehr geben, nur noch ein Geräusch, das sich von anderen Lauten in der Welt nicht unterscheiden lässt. Aber bis dahin wird es noch lange dauern, bis dann wird das Lied noch viele Jahre zu dir über Ozeane fliessen und du wirst es hören und vielleicht an mich denken oder auch nicht. 

    Leave a Reply

    Your email address will not be published. Required fields are marked *