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Das Meer finden

aus Kurzgeschichte

Sie hatte nur schnell pissen wollen, schnell da hochlaufen und pissen und vielleicht runterschauen. Sie kletterte die Böschung hoch, drehte sich so, dass sie den Weg sah, auf dem sie gekommen war, und hockte sich hin. Sie roch ihren Urin und die Erde, feucht und schwer, und noch etwas anderes, etwas Fremdes. Sie kramte ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche, machte sich damit sauber und liess es auf den Boden fallen.

Sie stand auf, der Wind streichelte über ihr Haar, und als sie sich umdrehte, sah sie das Meer. Sie hatte das Meer noch nie gesehen. Gehört davon hatte sie, sie kannte Bilder, Erzählungen, wusste, dass es existierte. Aber es hätte auch nur in Geschichten auftauchen können – so oft bis man fest daran glaubte, wie bei vielen Dingen, die man nie im Leben zu Gesicht bekommt. Sie aber sah das Meer zum ersten Mal in dem Augenblick, als sie den Reissverschluss ihrer Hose zuzog. Sie blickte in das Blau, das sich wie ein flüssiger Teppich bis zum Horizont erstreckte und sich dort in einem lila Nebel verflüchtigte. Es bewegte sich, strömte aber nicht in eine Richtung, sondern lag einfach da und lebte.

Und alles, was sie tun wollte, war hinunterzulaufen und es zu berühren. Jetzt tauchten auch all die anderen Bilder in ihr auf, von Wellen und Schaumkronen und Tieren, die sich schwerelos darin bewegten. Sie schossen durch ihren Geist wie Blitze, weckten ein Gefühl von Heimweh, von einer schweren, tiefen Trauer, die man aber lindern könnte, wenn man nur das Meer berühren könnte. Und so begann sie dem Zaun entlangzugehen, um das Meer zu suchen.

Sie lief und lief und lief und war sich sicher, dass der Zaun sie dorthin bringen würde, wo das Meer begann und wo es aufhörte; wo sich das Wasser erschöpft aufs Festland warf, immer wieder und wieder und wieder. Zuerst führte der Zaun am Ufer entlang, dann führte er durch den Wald und über Felsen, grau und spitz, und Erde, die schwarz war, nicht rot wie die Erde auf dem Hügel. Die scharfen Kanten der Steine bohrten sich in ihre Schuhsohlen und die schwarze Erde war staubig und trocken. Der Staub bäumte sich auf in kleinen Wolken und nistete sich dann überall ein, wo er Unterschlupf finden konnte: in den Nähten ihrer Kleider, zwischen ihren Zehen, in Nase und Ohren.

Sie hustete, stolperte, rieb sich mit dreckigen Fingern über die Augen und ging weiter und weiter, getrieben von ihrer Vorstellung des Zaunes, der zum Meer führte und darin versank. In diesem Bild ging das Gitter ins Wasser hinein wie eine Schlange und erstreckte sich dann weiter auf dem Meeresboden. Wale folgten ihm, um nach Hause zurückzufinden und Tintenfische krochen darunter hindurch, um zu ihren Nestern zu gelangen. Der Zaun, der ins Meer führte, grub sich so tief in ihren Kopf, dass sie an gar nichts anderes mehr dachte, alles andere war weg, fortgeblasen, ausgelöscht. Es war eine lautlose Welt, die sich in ihrem Kopf ausbreitete, und sie hörte tief in diese Stille hinein. Sie liess ihre linke Hand am Zaun entlangstreifen und fühlte, wie sich die Temperatur des Metalls veränderte, tastete über rostige und glatte Stellen, über kalte und warme, zerrissene und gerade.

Bald hörte sie vollständig auf zu denken und lief nur noch. Ihr Körper hatte die Trauer gespürt und wollte sie heilen. Ihr Magen verlangte Nahrung, ihre Beine sehnten sich nach Ruhe und ihre Haare wollten wachsen, aber alle ihre Organe hatten verstanden, dass sie nichts von alledem tun konnten, bevor sie am Ende dieses Zaunes angekommen waren und das Meer erreicht hatten. Sie trieben den Körper an mit einer Kraft, die jene von ihrer Seele noch übertraf. Sie wurde zu einer Masse aus Atomen, von denen jedes einzelne darauf zielte, das Meer zu finden.

Sie tastete sich weiter, auch in den Nächten, in denen sie einschlief, an den Zaun gelehnt, und umgekippt aufwachte, mit steifer Hüfte, den Kopf auf dem Boden. Sie setzte einen Fuss vor den andern, wie getrieben, anfangs mit festem Schritt, dann immer langsamer und langsamer, mit zitternden Gliedern, wie ein Schlafwandler. Ihre Hand begann zu bluten, aufgeraut von den rauen, rostigen Stellen, aber sie merkte es nicht, sie merkte nicht einmal, dass sie langsamer war als am Anfang und ging einfach nur weiter und weiter. Bis zum Ende, bis der Zaun sie nicht mehr über die Steine und das Dickicht ins Unbekannte führte, weil ihre Augen etwas erblickten, was sie anhalten liess.

Sie stand da und blickte auf das Papiertaschentuch auf dem Boden. Wenn der Zaun sich in den Norden verloren hätte, wäre sie für immer weitergelaufen, bis zu den Eismeeren, wo sie dann erfroren wäre, die Finger immer noch um die Drähte des Zauns gekrallt. So aber stand sie wieder an der gleichen Stelle und bewegte sich nicht. Als sie das Taschentuch lange anschaute, fiel ihr ein, dass sie wieder einmal pissen müsste und so hockte sie sich hin, aber es kam nichts, weil ihr Körper völlig vertrocknet war. Ihre Zunge lag schwer und pelzig in ihrem Mund, ihr Atem war flach und kaum hörbar, und der Boden begann sich langsam ihrem Gesicht zu nähern. Erst da merkte sie, dass sie vielleicht sterben würde. Nicht irgendwann, sondern jetzt, auf diesem Hügel aus roter Erde, von dem aus man das Meer sieht.

Da wollte sie wieder zurück, an den Anfang vor dem Anfang, zu dem Moment, als sie gesagt hatte: «Ich gehe schnell pissen.» Zurück in die Zeit, als sie das Meer noch nicht gesehen hatte. Sie wollte wieder zu den andern, deren Gesichter sie vergessen hatte. Aber sie wusste nicht mehr, wer sie waren, was sie vorher getan hatten und wo sie hergekommen waren. Sie versuchte Bilder in ihrem Gedächtnis zu finden, die etwas über damals verraten würden, aber ihr Geist hatte nichts mehr zu erzählen.

Ihr ganzer Körper begann zu schmerzen, weil er verstand, dass er das Meer nicht erreichen würde. Leere ergoss sich in ihre Seele. Und so kroch sie – denn gehen konnte sie nicht mehr – die Böschung hinunter, zwischen verbeulten Dosen, leeren Plastikflaschen und zerknitterten Papier-taschentüchern hindurch, und versuchte den Anfang zu finden. Aber Anfänge warten nicht, und wo für sie einmal alles angefangen hatte, da war jetzt nichts mehr. Nichts mehr ausser Abfall und ein paar Vögeln, die aufflatterten und über den Zaun davonflogen, als sie den langsam daherkriechenden Körper erblickten.

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