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Feature

Viel Blut im Boot am Bodensee

aus Feature

Gewinnertext des Ostschweizer Medienpreises 2015 in der Kategorie Tagestext.

Es ist ein Tag zum Sterben, oder besser gesagt, zum Totsein, an diesem Sonntagmorgen um zehn Uhr am Bodensee in Altnau. Der Nebel senkt sich auf Land und See und hüllt die ganze Welt in Weiss und Grau. «Wir nähern uns dem Ende, drehen aber gerade den Anfang», wird den Journalisten erklärt. Im Bodensee-Tatort kann man das so machen, alles rückwärts, nicht der Reihe nach wie im richtigen Leben. Heute wird Thomas Loibl als bekannter Rechtspopulist tot aufgefunden. 

Der Hafen ist grau, so wie der Rest der Welt. Die Menschen tragen Wollmützen. Hauptsächlich schwarze, passend zum traurigen Tag, aber auch ein paar andere Farben. Ein riesiges Stativ und ein überdimensionaler Reflektor werden ausgeladen. Man kratzt sich am Kopf, läuft von hier nach da und von da nach hier. Seile, Make-up-Kisten und Kabel werden getragen. 

Es ist Sonntagmorgen. Manch ein Auge blinzelt noch etwas verschlafen unter der Wollmütze in die Welt hinaus. «Wo ist denn jetzt die Leiche?», fragt man sich. Die Leiche ist nackt, also nicht nackt, aber nackter als wir. Aber jedenfalls zu nackt, um draussen in diesem kalten Tag herumzustehen, wird erklärt. Aha. Dann wird eben gewartet. 

Plötzlich geht ein Raunen durch die Menge, man dreht sich um und schaut Richtung Drehort. Die Leiche! Die Leiche ist da! Sie, beziehungsweise er, trägt eine rote Daunenjacke und hat eine Kopfwunde im schneeweissen Gesicht. «Morgen!», sagt er mit einem ironischen Lächeln und schreitet auf den Bootssteg zu, der ins graue Nichts hinausführt. Ein Schmunzeln geht durch die Menge. Ach, die Leiche. Sie sieht ja ganz tot aus, wunderbar. Das hölzerne Ruderboot mutet an wie aus einem romantischen Gruselfilm mit einem goldenen Kronleuchter und einem schmutzigen weissen Vorhang, der ins Wasser hängt. Da drin wird jetzt gestorben, deshalb müssen alle Platz machen. «Ruhe, Achtung, Probe!», ruft die grüne Wollmütze. Handys müssen ausgeschaltet werden. Und los geht’s. Stop. Nein, doch nicht. «Der Kollege muss da weg», heisst es. Der Kollege geht weg. Jetzt stimmt’s. Aber nicht ganz. Noch eine Probe. Stimmt das Bild? Ist alles drin, was drin sein muss? Ist der Kollege nicht mehr drauf, der in die reale Welt gehört? Alle stehen herum und schauen und warten. Jeder ist bereit und fast keiner hat etwas zu tun. Es braucht jeden Einzelnen, würde einer fehlen, wäre es einer zu wenig, und trotzdem besteht dieser Tatort-Morgen hauptsächlich aus Warten. Ein Schwan schaukelt alleine auf dem Wasser. Zigaretten werden angezündet. Es geht ja schon gegen Mittag. Sonntagmittag. Die Leiche liegt in Hemdsärmeln in der Kälte. Aber das sei nichts Neues, Eva Mattes sei als Clara Blum im Jahr 2002 noch im November im Bodensee geschwommen. Kein Mensch weiss, wie sie das geschafft hat. Vielleicht ist Schauspieler sein auch der härteste Job, den es gibt. Am Ende dauert die Szene des neuen Bodensee-Tatorts eine Minute und zwanzig Sekunden. Eine gesamte Tatort-Folge besteht aus 88 Minuten. 

Also, die Proben sind vorbei, jetzt zieht die Leiche die Daunenjacke aus, krempelt die Hemdsärmel hoch, und legt sich in das Boot. Der Dreh sollte fünf Minuten dauern. Das wird kalt, wenn man nicht wirklich tot ist. Roland Koch bekommt noch etwas Puder ins Gesicht, dann darf er sich lässig auf die Mauer stellen, und los geht’s. «Bitte Ruhe zum Drehen! Gespräche einstellen!», ruft die grüne Wollmütze. Die Kamera fährt an der Szene entlang. «Also, verblutet…», stellt die Polizistin in der braunen Fischerhose fest. Wichtige Sachen werden besprochen. Ob er sich die Wunden selbst zugefügt hat? Das gilt es jetzt herauszufinden. Man muss auf jeden Fall die Kollegen in Deutschland informieren. Dann geht der Kommissar mit ebenso entschlossenem Schritt aus dem Bild: «Ich komme zurück, sobald ich kann!» Gut. Wir drehen die Szene gleich nochmals. Roland Koch steigt wieder auf die Mauer, die Kamera fährt in die Anfangsposition zurück, die Leiche liegt da, die Polizistin 

steht in den Fischerhosen, alles gut. Wir drehen! «Ruhe bitte», befiehlt die grüne Wollmütze. 

«Also, verblutet…» Furchtbar. Man weiss nicht genau, ob er sich die Wunden selbst zugefügt hat oder nicht. Koch springt lässig von der Mauer. Und die Kollegen in Deutschland muss man auch noch informieren. Dann muss er jetzt los, schnell aus dem Bild, er kommt ja zurück, sobald er kann! Gut. Stop. Die Leiche bekommt die rote Bettflasche einer jungen Dame mit bordeauxfarbener Wollmütze. Ein Schwarm Zugvögel kreist über der Szene. Die Presseleute müssen weiter links stehen. Es muss still sein. «Ruhe auf dem Set!», schreit die grüne Wollmütze. Es ist ganz ruhig, um nicht zu sagen totenstill, die Welt ist weiss und grau und man hört nur die Worte der Polizistin in den Fischerhosen: «Also, verblutet…» Ob er sich die Wunden selbst zugefügt hat, weiss man nicht, aber Roland Koch kommt zurück, sobald er kann. Dann wird ja alles gut. Nur kalt ist es trotzdem.