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Reportage

Joulupukki, Joulumaantie 1, 96930 Rovaniemi

aus Reportage

Sonntagszeitung vom 03.12.2017

Ob Santa Claus, Samichlaus oder Weihnachtsmann: Alle haben dieselbe Adresse hoch oben im Norden Finnlands. Wir haben den Mann, der schon 18 Millionen Briefe erhalten hat, in seinem Turm besucht.

«Lieber Santa, ich brauche ein Wunder», schreibt die neunzehnjährige Anna aus England. Sie faltet den handgeschriebenen Brief, legt ihn in einen weissen Umschlag, klebt ihn zu und schreibt: «Santa, Reindeer Land» auf den Umschlag. In die Ecke rechts oben klebt sie eine Ein-Pfund-Marke und wirft den Brief in den nächsten Briefkasten.

Lieber Samichlaus

Ich möchte einen blauen Regenschirm und einen gelben Regenschirm. Oder einen roten oder auch einen grünen. Das sind alles Farben, die mir gefallen. Oder eine andere Farbe. Rosa oder irgendeine andere Farbe. Einfach einen Regenschirm. Das ist alles.

Hanna

Der Brief wird ankommen. Genauso wie alle anderen, die mit dem Namen und dem Wohnort des Weihnachtsmannes, Samichlauses, Santa Clauses beschriftet werden. Selbst «Papa Noël au Ciel» auf Luftpostpapier hat den Weg gefunden zum wahren Samichlaus.

Der Samichlaus, der lebt nicht, wie allgemein im Volksmund verbreitet, in einer Hütte im nächstbesten Wald, nein, er kommt aus Finnland. Genauer genommen aus Lappland im Norden Finnlands, und zwar grad oberhalb des Polarkreises. Dort wohnt der «Joulupukki», wie ihn die Finnen liebevoll nennen, acht Kilometer ausserhalb der Stadt Rovaniemi in «Santa Claus Village» und empfängt in einem Holzturm das ganze Jahr hindurch Besuch. Und ganz viel Post. Das offizielle «Joulupukkiposti», das Postbüro des Samichlauses, hat bis zum heutigen Tag achtzehn Millionen Briefe aus 199 verschiedenen Ländern in Empfang genommen. China schreibt am meisten Briefe, gefolgt von Polen auf dem zweiten Platz und Italien auf dem dritten. Danach kommen Grossbritannien, Finnland, Japan und Russland.

«Wir behandeln alles, was mit dem Samichlaus zusammenhängt, mit einer gewissen Ernsthaftigkeit», sagt Salla Tauriainen, PR-Verantwortliche von Visit Rovaniemi, und betont, dass «Samichlaus» keine Berufsbezeichnung sei, sondern es sich dabei um eine wirkliche Person handelt. Ein Finne, der in einer hiesigen Pizzeria arbeitet, ist ein wenig skeptischer: «Ich denke nicht wirklich, dass es den Samichlaus gibt. Das ist ein Märchen für Kinder, und im Turm da drüben sitzt ein Schauspieler unter dem Bart.»

Aber wer sitzt denn jetzt genau in diesem Märchenturm im Weihnachtsdorf? Das wollen wir wissen und bitten um eine private Audienz bei der Märchenfigur. «Der Samichlaus wird morgen eine Stunde früher für euch die Tür aufmachen», wer den wir informiert. «Das ist ein grosses Privileg, also seid pünktlich.»

Pünktlich um neun Uhr, eine Stunde bevor sich offiziell das Türchen seines Turmes öffnet, schütteln wir die Hand des Samichlauses. Wenn der Wirklichkeitscha-rakter des Joulupukki an seinem Bart gemessen werden könnte, dann muss dies hier der echte sein. Der lockig schneeweisse Bart wuchert fast bis unter die Augen und bedeckt den ganzen Bauch. An den Füssen trägt er riesige braune Filzpantoffeln. In der Ecke surrt ein kleiner Ventilator langsam vor sich hin, damit der Samichlaus nicht zu heiss hat unter seinen warmen Kleidern. Er klopft auf den Hocker neben sich. «Setzt euch, setzt euch. Schön, dass ihr da seid.» Er zeigt uns eine Kinderzeichnung vom Samichlaus mit seinem Rentier. Das Rentier ist sehr dick.

Lieber Samichlaus

Ich war die ganze letzte Woche sehr niedergeschlagen. Bitte lass mich dir mein Leid klagen. Ich habe mich sehr fest in ein Mädchen verliebt, aber sie hat mich mehr als einmal weggeschickt. Ich weiss, es ist Zeit aufzugeben. Kannst du mir einen Gefallen tun? Bitte sage ihr, dass ich ihr frohe Weihnachten wünsche und sie vermisse. Vielen Dank.

Mit herzlichen Grüssen, Baihu (China)

Wann der Samichlaus morgens aufsteht? Irgendwann, wenn die Sonne aufgeht. Wie ist das denn, wenn die Nächte im Norden sehr kurz sind? «Dann muss ich sehr schnell schlafen», erklärt er und lacht, «aber das ist kein Problem, denn oberhalb des Polarkreises ist die Zeit magisch.» Und wie pflegst du deinen Bart? Ist der überhaupt echt? Der Samichlaus lacht. Er sei dreihundert Jahre alt, da habe man genug Zeit, sich einen langen Bart wachsen zu lassen. Ausserdem helfen ihm die Wichtel, ihn zu kämmen. Er habe sehr viele Wichtel. Er wisse nicht genau, wie viele, aber etwa so viele, wie er Rentiere besitzt.

Lieber Samichlaus

Es tut mir sehr leid, das ist jetzt wirklich mein letzter Brief. Ich würde nur gerne meinen Wunsch ändern. Ich hätte doch lieber ein paar Skinny Jeans statt Mario Kart. Danke.

Elaine

Das mit den Rentieren ist so eine Sache. Er habe ganz viele, aber Rudolf stehe ihm am nächsten. Wie er ihn gefunden hat? Es sei eher anders herum gewesen. Rudolf habe ihn gefunden. «Und das sage ich euch jetzt ganz vertraulich», er lehnt sich zu unserem Hocker und flüstert: «Aber Rudolf ist sehr eitel. Er hat mich nur ausgewählt, weil er findet, mein roter Mantel passt zu seiner roten Nase.»

Lieber Samichlaus

Wenn du Zeit hast, kannst du Fotos machen vom Schnee und von den Polarlichtern für mich? Wenn du das machen könntest, wäre ich sehr glücklich, ich will unbedingt die Sterne in Finnland sehen. Ich freue mich darauf, von dir zu hören.

Jasmina (Taiwan)

Er kichert zufrieden und lehnt sich wieder zurück. Eine kleine goldene Lesebrille schaukelt auf seiner Nase. Die Augenbrauen sind weiss angemalt, und seine Hände sehen nicht alt aus. Am liebsten höre er Weihnachtslieder, und vor dem Einschlafen lesen er und die Wichtel sich Märchen von Andersen und Grimm vor. Hat er ein Lieblingslied oder ein Lieblingsmärchen? «Nein, ich mag sie alle.»

Und von was lebt der Samichlaus? Wie verdient er sein Geld? «In meiner Welt gibt es kein Geld und keine Geschäfte. Es ist die Welt der Märchen.»

Noch eine letzte Frage haben wir an den Samichlaus: Was macht er mit den bösen Kindern? «Ich weiss nicht», sagt er nachdenklich und legt sich einen Finger dorthin, wo das Kinn wäre, wenn man es sehen würde. «Ich denke, böse zu sein, das ist eher ein Problem, mit dem wir Erwachsenen zu kämpfen haben.» Damit hat er wohl recht, und damit ist unsere Besuchsstunde auch schon um, denn es ist fünf vor zehn. Selbst im April steht bei minus sechs Grad jetzt schon eine zwanzig Meter lange Schlange vor seiner Tür.

«Wartet, bevor ihr geht, gibt es noch ein Foto», sagt der Samichlaus und zeigt auf den Wichtel mit der grossen Kamera, der auf einer kleinen Empore steht und sich mit den technischen Aspekten befasst. Lächeln! Klick. «Danke», sagt der Samichlaus und schüttelt unsere Hände, «habt ein wunderbares Jahr und bis Weihnachten.» Sein Schnurrbart steht ein bisschen schief und verdeckt den Mund, aber er klingt so, als würde er darunter gerade lächeln. «Herzliche Grüsse an eure Leser!», ruft er uns noch nach. Dann zupft er die wollenen Kniestrümpfe zurecht und streicht sich erwartungsvoll über den Bart.

Lieber Samichlaus

Hilf mir, bitte. Niemand sonst kann mir helfen. Ich heisse Marta. Ich lebe in Russland, Moskau. Ich bin 48 Jahre alt, und ich habe keine Freunde. Ich bin sehr einsam. Ich möchte mich gerne mit jemandem anfreunden. Lieber Samichlaus, bitte hilf mir, Freunde zu finden.

Marta

Wir erhalten einen kleinen Zettel mit dem Downloadlink zu unserem Foto mit dem Samichlaus. Gewöhnliche Gäste zahlen dafür vierzig Euro, für uns ist es gratis. Der Weg führt hinaus in das Dorf voller Souvenirläden, wo sich Weihnachtszauber in allen Formen und Farben ersteigern lässt. Was man zu Weihnachten noch nicht geschenkt bekommen hat, lässt sich nun mit Sicherheit in einem der Läden finden. Für einen Euro kann man sich ein Diplom dafür ausstellen lassen, dass man einen Schritt über den nördlichsten Breitengrad getan hat. Und für fünfzig Euro darf man sich eine fünfzehnminütige Fahrt mit einem Husky-Hundeschlitten gönnen. Weil Rentiere eben doch eher langsam sind, zumindest wenn sie nicht gerade fliegen.

Man mag sich fragen, warum Menschen aus aller Welt sich immer noch an eine Figur richten, deren Glaubwürdigkeit aus einem angeklebten Bart und gefärbten Augenbrauen besteht. Man mag sich wundern, dass erwachsene Leute seitenlange Briefe an eine Märchenfigur richten und ihr das Leid klagen, fast so, als würden sie sie persönlich kennen. Spätestens hier, im Weihnachtsdorf in Rovaniemi, scheint es offensichtlich zu sein, dass sich Weihnachten in eine Art Disneyland verwandelt hat, in ein Geschäftsmodell und ein Produkt, das sich vermarkten lässt.

Lieber Samichlaus

Ich bin achtzehn Jahre alt und heisse Katharina. Ich möchte, dass meine Schwester Sara an Weihnachten nach Hause kommen kann. Ja, das ist ein Problem, denn sie studiert in Oxford, und sie hat nicht genug Geld, weil sie viele Rechnungen bezahlen muss. Ich vermisse sie aber, und ich wünsche mir, dass sie an Weihnachten zu Hause ist.

Ich komme aus der Slowakei. Es ist ein kleines Land. Frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr.

Alles Liebe Katharina (Slowakei)

Lieber Samichlaus

Das ist das zweite Mal, dass ich dir schreibe. Letztes Mal hatte ich mir ein Spielzeug gewünscht. Das war ein bisschen kindisch. Jetzt bin ich siebzehn und habe einen Freund. Ich wünsche mir wirklich, dass wir für immer zusammenbleiben werden. Könnte ich dich vielleicht um ein hilfreiches Buch darüber bitten, wie ich eine Beziehung frisch und glücklich halte?

Betty (China)

Aber vielleicht ist objektive Wahrheit in diesem Kontext nicht so wichtig. Vielleicht geht es nur darum, den Menschen eine Figur zu bieten, an die sie ihre Wünsche richten können.

Und wahrscheinlich ist der Gedanke daran, dass irgendwo jemand ist, der unsere Wünsche hört, den unsere Wünsche interessieren, sogar viel wichtiger als das Wissen darüber, was möglich ist und was nicht. Für manche ist diese Instanz Gott, für andere das Universum, für kleine Kinder sind es Mama und Papa, und für einige ist es eben der Weihnachtsmann. Wenn das Joulupukkiposti also etwas beweist, dann ist es das: Die Menschen wollen eben immer noch träumen. Und an Wunder glauben.

Die richtige Adresse des Samichlauses lautet übrigens: Joulupukki, Joulumaantie 1, 96930 Rovaniemi.

Von der Drogenmeile zum Catwalk

aus Reportage

20 Minuten online, 20. August 2016

Muckis, Tattoos überall und das Apéroglas stets im Anschlag: Nirgends ist Zürich im Sommer cooler als am Oberen Letten. Die Drogenjahre sind vergessen.

“Ich ha d Lettechette aa”, sagt der 25-jährige Christian aus Maur und berührt die buddhistische Malakette an der nackten Brust. Warum? „Wils In isch.“ Ein Frauenhintern im glitzernden brazilian Bikini. Noch einer. Selbstbewusst zur Schau getragen. Vielleicht ist das ihr Lettenbikini, bereit für den Laufsteg vom Dynamo bis zum Primitivo. Da ein perfekt sitzender Lidstrich, dort ein eingeölter Männerkörper. Links ertönt deutscher Rap, rechts etwas lateinamerikanisches, vielleicht Reggaeton. Man wippt mit dem Fuss, trägt Sonnenbrille, trinkt Bier und ist cool. Es riecht nach Son- nencreme und Calvin Klein. Und ein wenig nach Limmat. Der Sommer ist da, und der obere Letten ist offen.

Europas grösste offene Drogenszene

Vor kaum mehr als zwanzig Jahren sassen unter der Kornhausbrücke noch Heroinjunkies. Hier schliefen, spritzten und starben die Fixer. Herge- bracht hatte sie die Suche nach dem Rausch, und geblieben sind sie unter dem Fluch einer bis dahin noch viel zu unbekannten Droge. Der Let-
ten hatte damit fast 3000 Menschen eine Bleibe gegeben. „Das ist mein Zuhause“, hatte die im Fernsehen porträtierte Fixerin Ursula Brunner damals gesagt und von der Kornhausbrücke hinunter gezeigt, „da kenne ich die Leute, da weiss ich wies geht und kenn mich aus.“ Spritzen, Scher- ben und Lumpen zierten das Flussufer. Im Jahre 1995 wurde der Letten leergeräumt, Ursula zog nach Adelboden, und die grösste offene Dro-genszene Europas verschwand für immer von der Bildfläche.

Mojitos unter Plastikpalmen

Manches ist seither gleich geblieben, etwa das Eisengeländer, über das heute die jungen Frauen und Männer in Badehosen und Bikinis klettern, um ans Wasser zu kommen. Sonst ist fast alles anders. Die Gleise sind weg, dafür steht dort jetzt ein Containerkomplex mit bunten Streifen: Das Primitivo, das mit Kiosk, Sonnendeck und Küche die Besucher versorgt.

Auf dem Dach darf man Mojitos und Negronis unter Plastikpalmen und neben echten Blumen schlürfen. Unten am Kiosk gibt es Bier, haus- gemachte Limonaden und ganze eineinhalb Deziliter Prosecco für nur neun Franken. Alles im Plastikbecher mit Depot, versteht sich. Scherben will man hier nicht, und auch die Umwelt will geschützt sein.

An den heissen Hochsommertagen reicht die Schlange manchmal bis hinunter zum Fluss. Die Damen tragen riesige Strohhüte, Bikinis und Schuhe, weil die Kieselsteine die Füsse piksen. Aber nicht irgendwelche Schuhe, nein, die ausgelatschten Flipflops sind daheimgeblieben. Weisse Plateauschuhe zum Beispiel – und dieses Jahr ziemlich oft sogar Stiefel. Cowboystiefel und weisse Badeanzüge, auf die dann die Sauce aus dem Tuna-Burger tropft.

Man schaut erwartungsvoll zur Kasse und hat keine Zeit zu verlieren, denn man sollte ja eigentlich irgendwo sein, und zwar unten auf dem Holz- steg. Dort breitet man sein Tuch aus, stellt den Miniaturlautsprecher hin, drückt auf Play, setzt die Sonnenbrille auf und schaut in die Welt hinaus. Mal schauen, wer sonst noch alles da ist. Mal schauen, was noch alles passiert.

Täglich ist Tattoo-Parade

«Da sind ganz viele, manchmal gar so viele, dass Freund und Freund sich fast nicht finden. Manch einer steuert in tropfender Badehose durch den tätowierten Fleischhaufen und schreit ins Smartphone: «WO bisch?» Man ist meist ein bisschen zu weit vorne oder ein bisschen zu weit hinten. «Ebe doch ufem Holz une! Ich ha doch gseit, mir sind bim Volleyballfäld obe!» Aber wie soll man sich denn finden, wie soll man überhaupt etwassuchen, wenn es so viel zu sehen gibt.

Allein die Tätowierungen sind einen Spaziergang durch die Badi wert. Es gibt Maori, Japanisches, Dotwork und seit einigen Jahren natürlich Bandeaus und Dreiecke. Ganz viele geheimnisvolle Daten. Geboren, ein- geschult, verliebt, verheiratet, gestorben. Oder so. Da hat sich einer grad mal das halbe Bein schwarz tätowiert, und dort ein anderer eine Ritter- rüstung. Hie und da sieht man noch, dass sie frisch gestochen sind. «Zwei Wochen lang nicht in die Sonne», heisst es eigentlich, aber wer eine neue Tätowierung hat, will die doch auch zeigen. Alt werden und verschwom- mene Linien auf dem Körper tragen kann man auch später noch.

Bauch einziehen!

Wer sich im oberen Letten auskennt, der weiss, dass man am besten beim Dynamo von der Brücke springt und sich dann bis zum Holzrost trei- ben lässt. Weil der Asphalt heiss ist, läuft man am besten ganz schnell auf dem schmalen Schattenstreifen des Geländers. Kinn raus, lächeln, und los. Darum geht die 26-jährige Carla nie in den Letten. «Ich hab das Gefühl ich muss den Bauch einziehen, wenn ich aus dem Wasser komme, und das mag ich nicht», sagt sie.

Oben bei der Betonmauer sind die Sprayer. Sie sind die Einzelgänger, hören Musik auf den Kopfhörern statt mit den Speakern und lassen sich vom coolen Treiben um sich herum nicht beeindrucken. Keine Son- nenbrille, dafür die Kapuze hoch. Was dabei an Kunst entsteht, ist teil- weise durchaus einen Blick wert, wenn man es schafft, von dem Menschen weg und hochzublicken. Niemand Aussenstehendes weiss genau, wer wann wessen Bild übersprayen darf. Aber vor einigen Jahren ist ein Graffi- ti die ganze Saison lang dagewesen. Man sagte, der Sprayer sei unverhofft ums Leben gekommen, und deshalb habe niemand sein Werk angefasst. Links davon sind die Beachvolleyballer. Wer noch nicht genug knackige Pos und Waschbrettbäuche gesehen hat, sollte hierhin kommen. Frau und Mann lassen vor aller Welt in Badehosen die Muskeln spielen.

Unter der Kornhausbrücke toben sich die Skater auf der Halfpipe aus. Noch mehr Waschbrettbäuche. Das beruhigende Surren der kleinen Räder auf dem Asphalt. Es wird lauter und leiser, kommt in Wellen wie Ebbe

und Flut. Die Skater kommen von überallher, auch von Baden und Luzern. «Hier ist es wie Sport und Ausgang gleichzeitig», erklärt der 20-jährige Lucas.

Mitte der 1990er war hier nichts

«Hier» war vor zwanzig Jahren erst einfach mal gar nichts gewesen. Vielleicht rannten mal ein paar Jogger den Fluss entlang oder ein Hunde- besitzer führte seinen Vierbeiner spazieren. Aber nach den Junkies war
der obere Letten zuerst leer gewesen und leer geblieben. Der Zürcher Gastronom Stefan Tamò stellte schliesslich zur Fussball-WM 1998 eine provisorische Bar mit Fernsehern auf, um die Spiele live am Fluss zu über- tragen, und hat damit das Primitivo ins Leben gerufen. Damals sei noch überall Stacheldraht herumgelegen und die grauen Betonwände hatten unbemalt in den Himmel geragt.

Das Einzige, was heute noch unbemalt ist, ist die Kornhausbrücke. An heissen Tagen stehen dort die wagemutigsten Besucher des oberen Letten. Vielleicht auch die betrunkensten. Zwischen Kornhausbrücke und Was- ser befinden sich zehn Meter freier Fall. «Ich bin vor drei Jahren einmal gesprungen und tue es nie wieder», erzählt die 30-jährige Gabriela und fasst sich an den Kopf, «ich hatte so Angst, ich bin fast ohnmächtig umge- fallen. Aber alle meine Freunde sind gesprungen, also wollte ich auch.»

Fast jeden Tag stehen sie da, junge Männer und Frauen in Badehosen. Vom Holzsteg aus kann man sie sehen, fast kann man sie zittern sehen
aus so weiter Ferne, oder man meint es zumindest. Dann klettert der Erste über das Geländer. Dann der Zweite. Der Erste klettert wieder zurück, traut sich doch nicht. Bis der Erste springt, wird manchmal siebenmal hin- und hergeklettert. Manchmal nimmt einer doch die Treppe hinunter, aber meist springt jeder, denn die andern tun es ja auch. Jedes Jahr ertrinken Menschen am Letten. «Meist so ein bis zwei pro Saison», erzählt einer der Köche des Primitivo, «aber das sind nicht jene, die von den Brücken springen, sondern meist einfach Jungs, die nicht schwimmen können oder zu betrunken sind oder beides. Dann kommt die Wasserpolizei und bringt die Leichen hoch, manchmal erst kurz vor der Schleuse.»

Nachschub holen an der Tanke

«Der Letten ist schon ein Art Zuhause für mich», stellt Anna (25) fest und nimmt einen Schluck Bier, «man kennt an fast jeder Ecke jemanden und man weiss halt, wies läuft.»«Alles fliesst im Letten», sagt Christian (44), «Wasser, Menschen im Wasser, und auch der Alkohol.» Er kommt fast jeden Tag hierher, um seinen Kaffee zu trinken und seine Zeitung in der Sonne zu lesen. Manchmal auch zum Apéro oder nach dem Apéro, «aber das sind dann die Abende die ich manchmal nicht mehr so präsent habe.»

Wem die Preise des Primitivo zu teuer sind und wer keinen Becher zurückbringen möchte, der geht über die Brücke in die Tankstelle, welche den Bedürfnissen der Lettenbesucher entsprechend ausgestattet ist. Bier, Prosecco, und Weisswein werden danach in Plastiksäcken am Gitter unter den dem Holzrost angebunden, damit sie im Wasser kühl bleiben.

Closing-Party als Schlusspunkt

Geht die Saison zu Ende, verbleiben unzählige bunte Plastikfetzen an den Gittern zurück und sind Zeuge des feuchtfröhlichen Treibens, das einen Sommer lang die Flussmeile beherrscht hat. Wenn mit dem Let- tenopening in Zürich der Sommer beginnt, endet er mit der Closing-Party im September. Dann wird es wieder ruhig im oberen Letten, Pullis werden über die Tätowierungen gezogen, man geht in gängige Clubs wie die Zukunft, das Hive oder die Büxe, verlagert das Sehen und Gesehenwerden an Orte mit einer Heizung.

Bis dahin aber will man schön sein, cool sein und dazugehören. «He hooooi! Scho mega lang nüm gseh!», heisst es. Man lehnt am Geländer, an welches sich schon die Junkies gelehnt hatten und schaut sich die Leu-
te an. Da und dort die Augen vielleicht einmal eine Sekunde länger auf andern verweilen lassen. Ein freches Zwinkern oder ein nettes Lachen darf schon sein. Wenn man nicht schon jemanden kennt, dann lernt man vielle- icht jemanden kennen. Ein wenig mit dem Fuss wippen. Bier trinken.

Um Mitternacht sind die Abfalleimer am Überquellen und zerdrückte Dosen zieren den Catwalk neben dem Fluss. Ein paar gebückte Gestalten gehen mit Kehrichtsäcken umher und sammeln den Abfall ein. Wenn es nichts mehr zu sehen gibt, verschwinden auch die Menschen, und alles, was zurückbleibt sind die stummen Zeugen eines zivilisierten Gelages. Man hört das monotone Rauschen des Flusses. Aus der Ferne erklingt noch Musik aus einem Handy, und die gedämpften Stimmen von ein paar Zurückgebliebenen. Was bleibt, ist der Geruch des Rausches. Früher waren es die andern, die Junkies, die die richtige Haltestelle im Leben verpasst hatten. Heute sind es wir mit dem Bier in der Hand. Nur einfach sauberer, erfolgreicher und vor allem: schöner.