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Eis und Feuer

aus Kurzgeschichte

Flecken ziehen vor meinen Augen hindurch. Schlafmangel. Wegen diesem Geruchsspiel und der Klangmassage gestern Nacht. Der Tisch hatte vibriert, als wir die Hände darauf gelegt hatten, und der Junge hatte erzählt, dass er über das Feuer gelaufen war. Die Nacht hatte sich zusammengefügt wie die Sechsecke der Bienenwaben. Ich spüre noch immer die Vibration der Harfe in meinem Körper und weiss, jetzt muss ich laufen, in die Berge gehen, um dieses Fossil zu suchen, diesen sandbedeckeckten Gletscher, der in sich zusammenfallen und sterben wird. Man fragt sich, ob er seufzen wird.

Vielleicht sogar Todesschreie ausstossen. Man weiss es nicht. Man weiss auch nicht genau, wann es passieren wird, aber es ist unabwendbar, unvermeidlich, unabdingbar und es wird bald passieren. Der Schnee auf den Bergen ist schon gegangen, der Sand ist danach heruntergerieselt. Felsen sind hinabgestürzt und haben hoffnungsvolle Schäfer mit ihren Schafen in den Tod gerissen. Jetzt ist da nichts mehr, nur Stein, loser und fester Stein, über den wir gehen. Wir steigen alle da hoch um ihn ein letztes Mal zu sehen, eine warme Hand an das kalte Eis legen und auf Wiedersehen sagen. Wir sterben wenn wir kalt sind, er stirbt, wenn er warm wird. So eigenartig ist das alles. Er wird daliegen wie ein gestrandeter Wal, glaube ich, wie ein gigantisches Tier, das einmal geherrscht hatte und nun völlig hilflos ist, und nur noch darauf wartet, dass sein Körper aufhört zerfällt. Ich denke die Haselnüsse in meinem Beutel und die Flasche mit lauwarmem Schwarztee und betrachte die anderen, die vor mir gehen, manche mit den Händen in den Jackentaschen, andere lassen die Arme müde am Körper herab baumeln. Wir gehen durch eine Welt, in der alles grau ist, der Himmel, der Boden, die Wolken, auch wir, die Menschen, die verstreut über die Felsen wandern, sind grau. So kann man gut nachdenken, wenn man einfach einen Fuss vor den anderen stellt in dieser grauen Luft, wo alles still ist und man nur aus weiter Ferne ein heiseres Pfeifen hört, weil der Wind Löcher in die Berge schleift. Ich stelle einen Fuss vor den anderen, manchmal auf feste und manchmal auf wackelige Steine. Ob der Gletscher weinen wird? Vielleicht fliessen seine Tränen über die Felsen, färben sie schwarz und verwandeln sich in Bäche, die bis ins Tal hinunter fliessen, dorthin, wo sich die Bauern über das Wasser freuen, bis sie merken, dass das nächste, was herunterkommt, der Berg sein wird. Der Berg wird herunterfallen und das ganze Dorf zermalmen, wird die fünfhundertjährigen Holzbalken der Deckengerüste zersplittern wie Streichhölzer. Auch die Kühe wird er zerdrücken, Blut wird in die Erde sickern. 

Ein Falke zieht lautlos seinen Kreis. Auch er geht zum Gletscher. Man sagt, dass alle Tiere sich vor ihm verbeugen werden, bevor er geht. Selbst die, die sonst im Winter schlafen. Die Eichhörchen und die Igel und die Murmeltiere, alle werden noch ein Händchen oder eine Pfote auf das nasse Eis legen, um ihm auf Wiedersehen zu sagen. Der Falke dreht stumm und mit geschlossenem Schnabel seinen Kreis. Dann wendet er sich ab und fliegt in weitem Bogen davon gegen Norden. Ich denke an die Vibration, die in meinen Körper geflossen ist, als ich den Tisch mit der Harfe berührt hatte, und an den Jungen, der darauf lag und vom Feuer erzählt hatte. Am Sonntag sei er alleine in den Wald gegangen, erzählt er, habe Holz gesammelt und meditiert und abends, als das Feuer in sich zusammengefallen war, ist er über die Glut gelaufen. Ich spüre die Fäden der Harfensaiten an meinen Fingern, die summenden, weichen Töne, die übereinanderfallen und sich zu einem wellenartigen Geräusch vereinen. Der Geruch nach Tonkabohnen, Rosmarin und Feuerstein. Sie kann uns auch hypnotisieren, sagte die Frau in dem lila Kleid. Die Erinnerung an die Farbe tut mir weh. Nein, 

hatte ich gesagt, weil das Schwarz unter ihren Augen verschmiert war, und sich wie Tränen bis in die Wangen hinunter zog. “Du musst dir nur immer wieder vorstellen, wie es sein wird dass es nicht weh tut, wenn du durch das Feuer läufst”, erzählte der Junge, “und dann wird es genauso sein.” Der Geruch nach Mandarinen. Ich erriet alles, sogar den Geruch von Gummi. Vielleicht wird er sich bewegen, der Gletscher, vielleicht wird er sich aufbäumen. Vielleicht ringt er mit dem Tod, weiss, dass er kommt, aber möchte ihn hinauszögern. Vielleicht ist es ihm nicht recht, dass man ihn besucht, dass die Menschen ihn behandeln wie eine Madonna in einer Kathedrale, auf Glück und Erlösung hoffend. Das Glück, das Glück. Wie es wohl klingt und welche Farbe es hat. Es ist in weiter Ferne, hinter den Steinen dieser grauen Unendlichkeit. Gestern hatte ich es gespürt, als ich an den Saiten der Harfe ziehen durfte und der Tisch vibrierte. Stell dir nur einfach vor, wie es sein wird, hatte der Junge gesagt und ich hatte ihn angeschaut und gedacht, ich könnte mit dir glücklich sein. Vielleicht hundert Jahre lang. Und jetzt setze ich einen Fuss vor den andern und spüre die kalte, lautlose Luft an meinen Wangen. Ich überlege mir, ob ich anhalten und ein paar Haselnüsse essen soll, aber es ist schon spät. Obwohl man früh aufgebrochen ist, hat die Sonne die höchste Stelle am Himmel bereits hinter sich gelassen, und ich sehe, dass die anderen immer schneller laufen. Ich beeile mich und grabe mit der Hand im Beutel, um eine Handvoll Nüsse hervorzukramen. Der Gletscher hat Schnee gegessen, und jetzt, wo es keinen Schnee mehr gibt, verhungert er. Man hatte ihn retten wollen, ihn mit Kühldecken zugedeckt, und das schien zu helfen, aber er verhungerte trotzdem, wurde kleiner und grauer und schwächer. “Toteis”, schrieb man in den Zeitungen, und manche behaupteten, er läge zwar noch da oben, habe aber bereits aufgehört zu leben. Bis man zum Schluss kam, dass er noch nicht tot sein konnte, denn er bewege sich immer noch, wechsle die Form, die Farbe. Man muss da hochgehen, sagten die Menschen, ihn berühren, die Hand ein letztes Mal auf das Eis legen. Einige glaubten, dass er sich mit Entschuldigungen und Opfergaben retten liesse, aber das waren die wenigsten. Ich habe Bilder gesehen von Menschen, die vor dem Gletscher barfuss auf ihren Knien lagen, tagelang, die Lippen spröde und aufgerissen, die Augen geblendet vom ewigen Grau. Sie hatten ihm Gaben gebracht, tote Tiere, die sie mit trockenem Grünzeug bekränzt auf das Eis legten, bis man sie weggejagt hat. Der Gletscher liess nicht nicht retten, er wurde nur schmaler mit der Zeit und man verstand, dass man gehen und ihn verabschieden musste, ein letztes Mal eine Hand an das Eis legen, das Eis das älter ist als wir alle, älter sogar als die Deckenbalken der Häuser im Tal. Ich frage mich, wie es riechen wird, wenn wir beim Gletscher sind, ob etwas in der Luft liegen wird, das vom Tod erzählt. Ich weiss gar nicht wo ich hingehe, ich laufe einfach den anderen hinterher, bis uns die ersten Menschen wieder entgegenkommen, und ich weiss: hinter diesem Hügel, da liegt er. Ich stolpere über die Anhöhe, müde vom ununterbrochenen Laufen und der schlaflosen Nacht. Da liegt das riesige Ungetüm, scheinbar ängstlich zwischen den Berggipfeln eingeklemmt. Eine klaffende Wunde in der Seite, man hat versucht, sich Stücke der Ewigkeit abzuschneiden und sie abzutransportieren. Vielleicht für Unsterblichkeit oder Gold. Man weiss es nicht. 

Es ist ganz still. Das Pfeifen des Windes ist verstummt. Die Menschen gehen vorsichtig, wie auf Zehenspitzen, tasten sich an das Eis heran, legen die Hände daran. Manche setzen sich auf den kalten Boden und schauen sprachlos zu ihm hoch, die Lippen zu unverständlichen Gebeten geformt. Auch ich schleiche mich heran an das riesige Wesen und staune ob seiner Grösse. Es könnte die Tore öffnen, alles Wasser herausfliessen lassen und uns alle wegspülen, bis ins Meer. Vorsichtig lege ich meine Hand an das dreckige, sandige Eis und spüre eine brennende Kälte. Es ist eine traurige Kälte, die, wenn sie ein Ton wäre, aus einem sehr hohen i 

bestehen würde. Er summt, der Gletscher, er schreit, in einem einzigen, langgezogenen, unaufhörlichen Schrei. Ich lasse meine Hand so lange auf dem Eis, bis ich nicht mehr weiss, ob sie kalt oder heiss ist, ich lausche dem Ton zwischen meinen Ohren und schliesse die Augen und sehe Flecken vor der Dunkelheit unter meinen Augenlidern hindurchziehen. Die Müdigkeit legt sich auf meine Schultern und in meine Beine. Ich denke an nichts. Erst als mich jemand am Ärmel packt und wegzieht, nehme ich die Hand weg, öffne die Augen, setze einen Fuss vor den andern. Meine Handfläche ist taub, ich grabe meine Fingernägel hinein und spüre nichts. Aber ich höre die Schritte der Menschen auf dem Geröll, sehe sie vor mir laufen, wieder zurück, da wo wir alle hergekommen sind, und folge ihnen. Auf der Anhöhe drehe ich mich um. Von weitem sieht die riesige Wunde aus als würde sie leuchten. Ich möchte mich auf die Steine setzen und hineinsehen bis das Leuchten weggeht. Aber die Menschen drängen mich, weiter zu gehen, es wird dunkel werden, sagen sie. Wie schön das Eis leuchten würde wenn es Nacht wäre, wenn da gar kein Licht wäre ausser dem Mond und den Sternen. Vielleicht findet er in jenen Momenten seinen Frieden, der Gletscher, wenn alle Menschen weg sind und der Schnee auch fort ist und er nur noch daliegt zwischen diesen nackten Bergen und nichts mehr zu tun hat als zu sterben. Meine Hand beginnt wieder warm zu werden und zu kribbeln, wie tausend kleine Nadeln schiesst der Schmerz in die Handfläche und ich denke an die Geräusche von Feuer, wie es knistert und knallt, und ich freue mich darauf, es zu hören. 

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